Wenn ich von einem Kontinent zum anderen fliege, kommt es mir oft vor, als ob ich durch die Jahrhunderte reise. Bin ich in einem Land, indem die Mehrehe und die Großfamilien an der Tagesordnung sind, und 30 oder mehr Personen einer Familie auf einem Grundstück zusammenleben, ist es, als ob die Zeit stehen geblieben ist. Nicht selten leben vier Generationen unter einem Dach, jeder hilft jedem, aber es gibt natürlich auch mehr Streitereien. Auf die Frage, wie die jungen Leute denn später einmal leben möchten, gibt es aber dann nur eine Antwort: In einer Kleinfamilie.
Durch die westlichen Einflüsse wie Tourismus und Fernsehen scheint ein Trend zur Individualisierung losgetreten worden zu sein.
Was früher noch überlebenswichtig war, wird heute vielen jungen Menschen oft lästig. Sei es, dass sie als Alleinverdiener eine Großfamilie ernähren müssen, oder als Arbeitsloser von einem anderen Familienmitglied abhängig sind. Individualität ist in beiden Fällen nicht möglich, doch aber so gewünscht.
Ein anderer Trend zur Individualisierung ist auch an den Namen abzulesen. Reden wir von Gambia, dem kleinsten Land auf dem afrikanischen Kontinent, stellen wir fest, dass es nicht übermäßig viel verschiedene Familien gibt, das heißt, die Menge an Nachnamen ist begrenzt. Bei den Vornamen sieht es auch nicht anders aus. In muslimischen Ländern werden die Kinder gerne nach berühmten Vorbildern benannt, und traditionell wird das erstgeborene Mädchen Fatou (Fatima) und der erstgeborene Junge Lamin (Al Amin, Beiname des Propheten Mohammed (sws)) genannt. So kommt es nicht selten vor, dass wenn du in eine Schulklasse den Namen Fatou rufst, sich schnell mal 7-8 oder mehr Schülerinnen angesprochen fühlen. Ähnlich mit Aisha (auf afrikanisch Issatou) oder Momodou (Mohammed).
Nicht viel anders verhält es sich mit den Nachnamen. Es gibt verhältnismäßig wenige Familien, die aber alle entsprechend groß sind. Und irgendwie wird man das Gefühl nie los, als ob jeder jeden kennt.
Also wieder nichts mit Individualisierung. Ein paar ganz Clevere lassen sich dann mit ihren Initialen anreden. Manchmal auch mit denen von Popstars. Nun ja. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.
So manches Einzelkind in Deutschland wäre froh, wenn es ein paar Geschwister hätte. Oder vielleicht auch nicht? Zeichnet sich ja in Deutschland ein Trend ab, der zum Superindividualisten führt. Ist das gemeinsame Wohnen schon fast zur Zumutung geworden, geht Heiraten schon mal gar nicht. Das gemeinsame Erziehen der Kinder ist auch irgendwie nicht mehr “in“, obwohl es in der Arbeitsteilung um so viel einfacher wäre. So wächst ein Heer von Kindern von alleinerziehenden Hartz4-Empfängerinnen heran, da arbeiten und Kinder erziehen alleine in der Tat nicht so einfach ist. Die Kinder hätten sich das so bestimmt nicht ausgesucht.
So hören wir ständig von der Doppelbelastung der Frauen, aber was machen eigentlich die Männer in der Zwischenzeit? Arbeiten sie etwa doppelt so hart, weil sie weniger zeitliche Verpflichtungen haben?
Für mich ein Zustand einer unerträglichen Kompromisslosigkeit.
Wo ist die nette Kleinfamilie geblieben, in der alle ihre Aufgaben und die Kinder Vater und Mutter haben? Nur wenige davon schon in Afrika und nur noch wenige in Europa.
Es ist nicht zu übersehen, dass die Industrieländer die großen Vorbilder für die meisten Afrikaner sind. Lampedusa lässt grüßen. Doch warum möchte denn keiner mal genau hinsehen, dass dort auch nicht alles Gold ist, was glänzt? Mein Appell daher für heute: Verbessert das, was ihr habt, anstatt dort hinzuschauen, wo auch nicht immer alles klappt.